06 / 1998
  "Schwerkraftbildung des Militärischen"
Österreich am sicherheitspolitischen Scheideweg
   
  von Christian Stenner

Die Perspektiven für Österreichs (und Europas) "Sicherheitszukunf" wurden Mitte Mai 1998 auf der hochkarätig besetzten Enquete "Die Zukunft der Neutralität" des Grazer Büros für Frieden und Entwicklung (Leitung: Dr. Karl Kumpfmüller) diskutiert – abseits der aufgeregten, von parteitaktischem Kalkül bestimmten tagespolitischen Debatte zu diesem Thema. Die sachliche Atmosphäre konnte über eines nicht hinwegtäuschen: Zwischen den unterschiedlichen Konzepten klaffen unüberbrückbare Gräben. Und – im Widerspruch zum Titel der Enquete: Für eine Mehrheit im österreichischen Parlament steht die Neutralität zur Disposition. Der Kalte Krieg ist vorbei. Der Warschauer Pakt hat sich aufgelöst. Die "Bedrohung aus dem Osten", gegen die die NATO gegründet worden war, existiert nicht mehr. Und dennoch: Das westliche Militärbündnis NATO, "dessen Jahre mangels eines Feindes gezählt sind", wie ein hochrangiger NATO-Funktionär nach dem Zusammenbruch der realsozialistischen Regime meinte, kann sich der Beitrittskandidaten kaum erwehren. Auch Österreich hat mit der Unterzeichnung des "NATO-Partnerschaft für den Frieden"-Abkommens bereits einen Schritt ins Bündnis getan; im Rahmen dieser "Partnerschaft" haben österreichische Soldaten schon vor eineinhalb Jahren Bürgerkriegseinsätze gegen Zivilisten im US-Ausbildungslager "Camp Lejeune" geübt.


Das Ende des außenpolitischen Konsenses

Nun drängen ÖVP und FPÖ auf einen NATO-Vollbeitritt, die Mehrheit der SPÖ und die Grünen sind dagegen, das LIF und die SPÖ-Spitze setzen auf die Entwicklung der EU hin zu einer eigenständigen Militärmacht – unter Einschluß Österreichs. Der von den Koalitionsparteien angekündigte "Optionenbericht" über die sicherheitspolitische Zukunft der Republik ist aufgrund unüberbrückbarer Divergenzen nicht zustandegekommen: "Die politischen Vorgaben waren so, daß sich die Beamten nur pro oder contra NATO entscheiden konnten und versuchen mußten, die jeweils andere Seite über den Tisch zu ziehen", resümiert Dr. Ferdinand Trauttmansdorff vom Völkerrechtsbüro des Außenministeriums. In der Tat steht Österreich vor einer für die Zweite Republik völlig neuen Situation, wie SPÖ-Klubobmann Dr. Peter Kostelka bei der abschließenden PolitikerInnendiskussion feststellte: "Zum ersten Mal seit 1945 gibt es keinen außenpolitischen Konsens mehr." Für den Nationalratsabgeordneten Herbert Scheibner von der FPÖ ist die Neutralität ein "vergangenes Völkerrechts-Instrument", und die ÖVP-Europaabgeordnete Ursula Stenzel formulierte in unüberhörbar deutlicher Negierung historischer Erfolge neutraler Vermittlertätigkeit: "Gegenüber wem wollen wir denn neutral sein – etwa gegenüber Israel und den Palästinensern?" In diametralem Gegensatz dazu verlangt der grüne Europaparlamentarier Johannes Voggenhuber eine Aufwertung der Neutralität "zu einem konstitutiven Element eines europäischen Sicherheitssystems"


"Militärs wollen auf der internationalen Bühne tanzen"


Warum hat die NATO das Ende ihres Konterparts im Osten überlebt, und vor allem: Was macht ihre Attraktivität für die Eliten neugeschaffener osteuropäischer Kleinstaaten ebenso wie für eine Reihe österreichischer Politiker und Militärs aus? „Die NATO hat es geschafft, sich durch neue, selbstgestellte Aufgaben wie Eindämmung regionaler Konflikte, Kampf gegen den Terrorismus und gegen die Verbreitung von Massenvernichtungsmitteln neu zu legitimieren", betont Univ.-Doz. Dr. Heinz Gärtner vom Institut für Internationale Politik in Laxenburg. Gleichzeitig wirke aber das Denken des Kalten Krieges in den Köpfen der Verantwortlichen weiter. "Nach wie vor setzt man auf die atomare Erstschlagskapazität zur Abschreckung und auf die Territorialverteidigung" – gegen einen nunmehr imaginären Feind. "Wenn die NATO ihre neue Aufgabe des Krisenmanagements ernst nimmt, ist die Territorialverteidigung überflüssig." Damit wäre aber auch das häufig verwendete Argument ad absurdum geführt, daß Österreich aufgrund seiner geografischen Lage bei einem Beitritt Ungarns zum nordatlantischen Bündnis gar keine andere Wahl habe, als sich ebenfalls der NATO anzuschließen. Der Friedensforscher Dr. Ekkehard Krippendorf von der Freien Universität Berlin sieht in der Aufrechterhaltung der NATO trotz des Endes der Blockkonfrontation (Ex-Außenminister Erwin Lanc: "Die NATO ist mangels Feindmasse konkursreif") vor allem das Eigeninteresse des Apparates, die "Schwerkraftbildung des Militärischen". Und das Drängen der österreichischen Militärs in die NATO – die Österreichische Offiziersgesellschaft wirbt unverhohlen für den Bündnisbeitritt – erklärt Krippendorf so: "Die wollen halt auch auf der internationalen Bühne tanzen, ein Büro im NATO-Hauptquartier in Brüssel beziehen und an der Konstituierung einer internationalen Militärklasse teilhaben."


Neutralität: Trittbrett …

Die Neutralität sei ohnehin immer nur eine Fiktion gewesen, meint der NATO-nahe Leiter der Abteilung Außen- und Sicherheitspolitik der Konrad-Adenauer-Stiftung, Dr. Karl-Heinz Kamp, unter Bezugnahme auf die Waffenlager, die die NATO in der Zeit des Kalten Krieges auch in Österreich unterhalten hat. Und er setzt kryptisch hinzu: "Es sollte mich wundern, wenn es bei der Entdeckung dieser Lager bleibt." Durch die "Partnership for Peace" sei Österreich ohnehin schon mehr in der NATO, "als die Neutralitätsbefürworter denken". Für letztere hat Kamp aber noch ein Beruhigungszuckerl parat: "Es gibt ohnehin keinen Gegensatz zwischen NATO und Neutralität." Eine gewagte Behauptung angesichts der Tatsache, daß der atlantische Pakt auf gegenseitiger Beistandspflicht der teilnehmenden Länder beruht und Österreich sich durch das Bundesverfassungsgesetz über Neutralität dazu verpflichtet hat, keinen Militärbündnissen beizutreten. Wie oft sich die österreichische Politik seit Beginn der 80er Jahre über dieses Gesetz hinweggesetzt hat, dokumentiert genüßlich der NATO-Beitrittsbefürworter Univ.-Doz. Dr. Paul Luif vom Laxenburger Institut für Internationale Politik: "Schon 1987 hat Österreich auf Druck der USA die Ausfuhrbeschränkungen für High-Tech-Güter in den Osten akzeptiert. Im Krieg gegen den Irak hat man zunächst betont, sich nur an den wirtschaftlichen Sanktionen zu beteiligen, im Jänner 1991 wurde dann aber die Durchfuhr von Panzern erlaubt. In der Jugoslawien-Krise wurde der NATO zuerst verboten, Österreich mit ihren Aufklärungsflugzeugen zu überfliegen, dann wurde der Überflug genehmigt – unter der Bedingung, daß die NATO-Aufklärer ihr Radar nicht über österreichischem Territorium benützen. Bald darauf ist auch dieser Vorbehalt gefallen – und zum Abschluß gab's dann gemeinsame Übungen der NATO-Flieger mit dem österreichischen Militär, bei der auch das österreichische Aufklärungssystem ,Goldhaube' eingesetzt wurde." Die Neutralität sei passé und nur noch ein Vorwand für Österreich, seine Rolle als "Trittbrettfahrer der Sicherheitspolitik" (O-Ton Luif) nicht aufzugeben: "Unsere armeren Nachbarstaaten haben, gemessen am Bruttoinlandsprodukt, wesentlich höhere Verteidigungsausgaben."


… oder Sprungbrett für eine neue Entwicklung?


Die Trittbrettfahrer-These Luifs erntet massiven Widerspruch: Sein Laxenburger Kollege Gärtner betont, daß Österreich bis heute 40.000 Mann für internationale Friedenseinsätze abgestellt und insgesamt 10 Mrd Schilling dafür aufgewandt habe – ein zentraler Beitrag zur internationalen Sicherheit, wenn diese nicht nur an Militäroperationen gemessen wird. Gärtner skizziert den Rahmen, innerhalb dessen sich eine bündnisfreie österreichische Sicherheitspolitik entfalten könnte: Konfliktvorbeugung im Rahmen der OSZE, der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, die auch Rußland einschließt; Mithilfe bei den Demokratisierungsprozessen in den Ländern des Ostens und Südostens ("Demokratien führen keine Kriege gegeneinander"), Kooperation mit der NATO im Rahmen der "Partnerschaft für den Frieden" und solidarische Teilnahme an internationalen Einsätzen, die durch ein UNO- oder OSZE-Mandat abgesichert sind. Auch für den Friedensforscher Dr. Klaus Heidegger von Pax Christi ist die Neutralität „kein Aussteiger-, sondern ein Einsteigermodell in eine neue Entwicklung" in Richtung auf eine nichtmilitärische gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik. Der Ex-Lieutenant-Colonel der US-Army und nunmehrige Friedensaktivist Ramon Lopez-Reyes konkretisiert eine weitere mögliche Variante dieser neuen Sicherheitspolitik. Sein Vorschlag: Die Schaffung "europäischer Zonen friedlicher Zusammenarbeit". Dabei hätten die neutralen Staaten die wichtige Aufgabe, die neue Kluft zu überbrücken, die eine Ostexpansion der NATO zwischen dem Westen und Rußland zieht – diesmal östlich des einstigen Eisernen Vorhangs. Die NATO erzeugt ihr Feindbild Der ehemalige stellvertretende Außenminister der Russischen Föderation, Andrej Fedorov: "Ein NATO-Beitritt der baltischen Staaten könnte heftige Reaktionen provozieren, weil damit die NATO-Ostgrenze direkt an Rußland heranrückt. Meinungsumfragen zufolge halten zwei Drittel der Russen die NATO für eine feindliche Organisation, das hat natürlich Einfluß auf die Entscheidungen der russischen Politik.
"Andreas Gross, Abgeordneter zum Schweizer Nationalrat und Mitglied der parlamentarischen Versammlung des Europarates, wirft den Politikern vor, den Veränderungen in Europa zum Trotz weiterhin starr auf militärischem Denken zu beharren: "Früher hätten alle gesagt: wenn die Blockkonfrontation vorbei ist, dann ist Zeit für Friedenspolitik."Österreich, so Gross, habe die Chance, auf der „Raab-Kreisky-Praxis" einer aktiven Außenpolitik eine neue Form der Neutralitt aufzubauen. Diese dürfe aber nicht isoliert von einem Staat, sondern müsse gemeinsam mit anderen Ländern entwickelt werden. Es sei "eine Schande", daß Ungarn, Tschechien und Polen keine andere Möglichkeit hätten, als der NATO beizutreten, "weil es in Europa keinen dritten Weg" zwischen NATO und Rußland gebe.


NATO-Turtelei: "Schwäche der Politiker"

Bei der abschließenden Podiumsdiskussion meldet sich Friedensforscher Krippendorf noch einmal aus dem Publikum zu Wort: "Der Sog der NATO ist Ausdruck der Schwäche der politischen Klasse, "räsonniert der Berliner Universitätsprofessor, "die sich daran orientiert, wo die stärkeren Bataillone stehen. Die eigentlichen Trittbrettfahrer sind die NATO-Befürworter. Neutralität erfordert ein höheres Selbstbewußtsein." Sein Ratschlag an die ÖsterreicherInnen: "Sie müssen die Geschichte der Neutralität dieses Landes wieder positiv besetzen. Dazu gehört ein Minimum an kritischem Patriotismus."



Das Neutralitätsgesetz


211. Bundesverfassungsgesetz vom 26. Oktober 1955 über die Neutralität Österreichs.

Der Nationalrat hat beschlossen:

Artikel I.
(1) Zum Zwecke der dauernden Behauptung seiner Unabhängigkeit nach außen und zum Zwecke der Unverletzlichkeit seines Gebietes erklärt Österreich aus freien Stücken seine immerwährende Neutralität. Österreich wird diese mit allen ihm zu Gebote stehenden Mitteln aufrechterhalten und verteidigen. (2) Österreich wird zur Sicherung dieser Zwecke in aller Zukunft keinen militärischen Bündnissen beitreten und die Errichtung militärischer Stützpunkte fremder Staaten auf seinem Gebiete nicht zulassen.

Artikel II.
Mit der Vollziehung dieses Bundesverfassungsgesetzes ist die Bundesregierung betraut. Körner, Raab, Schärf, Helmer,
Kapfer, Drimmel, Maisel, Kamitz,
Thoma, Illig, Waldbrunner,
Figl
   


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